SoWi-LK-Exkursion – Soziale Ungleichheit

Im Leistungskurs Sozialwissenschaften wird im 2. Halbjahr der Q1 das Thema soziale Ungleichheit behandelt. In diesem Rahmen haben wir in unserem LK das Thema Obdachlosigkeit besprochen. Es ist ein sehr komplexes und schwieriges Thema, für die meisten von uns aber in erster Linie ein weit entferntes Thema. Man sieht zwar oft Obdachlose, aber nie so richtig, was dahintersteckt. Um diese interessanten Fragen zu klären, einigten wir uns kursintern an einer Obdachlosenführung teilnehmen zu wollen.

Am 14.06.2022 ging es dann tatsächlich los. Die ersten beiden Stunden hatten wir noch zwei SoWi-Stunden, in denen wir uns inhaltlich auf die Führung vorbereiteten. Dann fuhren wir mit der Bahn in die Stadt. Die Stadtführung begann am Oberbilker Markt.

Zunächst stellten sich die beiden Stadtführer vor: Rüdiger, Mitte 40, hat 22 Jahre auf der Straße gelebt und Gisa, Mitte 50, die acht Jahre auf der Straße gelebt hat. Rüdiger erzählte, dass er in einem lieblosen Elternhaus aufgewachsen ist und schon als Jugendlicher Ärger hatte. Er hatte eine Lehre begonnen und gewissenhaft erledigt. Kurz nach seinem 18. Geburtstag wurde er jedoch zu Hause rausgeschmissen und stand praktisch vor dem Nichts. Zu Beginn hatte er noch ein paar Wochen bei seiner Oma oder Freunden gewohnt, ihm war dies auf Dauer jedoch unangenehm, sodass er auf der Straße landete. Dazu kam dann der Alkohol, der ihn stark abhängig machte und praktisch das Leben ruinierte. Erst seit drei Jahren ist Rüdiger nun trocken. Hilfe lehnte er am Anfang noch ab, doch dann berichtete er von der Hilfe von “fifty-fifty”. Sie unterstützen Obdachlose, indem sie ihnen Zeitungen für 1,40 Euro verkaufen, welche die Obdachlosen dann für 2,80 Euro weiterverkaufen können. Des Weiteren erhält “fifty-fifty” Kunstspenden des großen Gerhard Richter, welche für sechsstellige Beträge verkauft werden, um Wohnungen für Obdachlose zu kaufen und an diese günstig zu vermieten. Diese Hilfsangebote haben am Ende auch ihm geholfen, sodass er mittlerweile nicht mehr auf der Straße leben muss. Immer mit dabei ist seine Hündin, die nicht gerne ruhig stehen wollte, sondern voller Tatendrang war. 

Gisa stand einmal fest im Leben, hat drei Kinder, hatte einen Job und eine Wohnung. Sie erzählte, dass sie nie damit gerechnet hätte, einmal obdachlos zu werden. Doch die Kinder zogen aus, ihren Job als Model verlor sie wegen ihres Alters und die Firma für die sie arbeitete, ging Pleite. So ist auch sie innerhalb kurzer Zeit auf der Straße gelandet. Dazu kam dann noch eine Heroinabhängigkeit aufgrund eines schlechten Einflusses durch ihren damaligen Freund. Inzwischen ist sie im Methadonprogramm und konnte sich eigenständig eine Wohnung besorgen. 

Ihre Geschichten erzählten die beiden noch am Oberbilker Markt. Doch dann gingen wir ein paar Minuten, bis wir vor einem Haus in der Eisenstraße standen. Das Haus gehört der Stadt und dort ist Platz für 120 Obdachlose. Diese sollen dort ein Jahr wohnen können, um „wohnfähig“ gemacht zu werden – dies kritisierte Gisa zu Recht. Es klingt, als wären Obdachlose unzivilisierte Menschen, denen man das Wohnen beibringen müsste. Die Zustände in diesem Haus seien zudem desolat: So gäbe es dort nur eine einzige Sozialarbeiterin, es werde nur sehr selten gewaschen, es gäbe extrem viel Diebstahl aufgrund der Beschaffungskriminalität[1], Privatsphäre existiere ebenfalls nicht. Zudem muss man sich die Toilette mit etwa zwei Dutzend anderer teilen, da es davon nur sehr wenige gibt. Thomas Geisel, ehemaliger Bürgermeister, war in seiner Amtszeit mal da und versprach, dass es sich bessern würde, doch laut Rüdiger sei dem nicht so.

Nach diesem Halt liefen wir weiter durch die Stadt bis wir am Graf-Adolf Platz ankamen. Dort gibt es ebenfalls eine Notunterkunft. Uns wurde erklärt, dass es verschiedene Möglichkeiten gebe, an Essen zu gelangen. Dabei gibt es an manchen Hilfestellen kostenloses Essen, an anderen gegen ein geringes Entgelt. Als es zum Thema Spenden an Obdachlose ging, erklärte Rüdiger, dass er für jeden Betrag dankbar sei, da es von Herzen komme. Zudem stehe der Hund immer an erster Stelle und dieser würde vor ihm selber versorgt, da dieser wie ein Kind für ihn sei. Überrascht hat mich noch, dass Rüdiger erläuterte, dass es einige Einrichtungen gebe, wo Obdachlose duschen können oder ihre Klamotten waschen können. Laut ihm, müsse kein Obdachloser Hunger haben oder ungeduscht rumlaufen. Er habe für sowas nur wenig Verständnis.  

Zum Schluss waren wir noch an der Steinstraße. Dort berichtet Gisa, dass das Ordnungsamt auch „Obdachlosenschikanierdienst“ genannt werden könne, da sie Obdachlose besonders schlecht behandeln. Des Weiteren seien Misshandlungen und sogar Mordversuche durch Jugendliche nicht selten. Sie selber wurde einmal in ihrem Schlafsack mit Alkohol übergossen und angezündet. Auch Raubüberfälle und ähnlich grausame Taten seien nicht ungewöhnlich. Rüdiger kritisierte den Verfall des sozialen Zusammenhalts und der Rücksichtnahme bei einigen Obdachlosen. So hätten diese früher zusammengehalten und ihre Plätze sauber gehalten nach dem Verlassen. Doch diese Dinge veränderten sich zunehmend zum Schlechten, beklagte er. 

Nach zwei Stunden war die Führung dann zu Ende. Mich erschreckte, was für Zustände in den Hilfseinrichtungen herrschen. Gleichzeitig war ich positiv überrascht, dass es private Organisationen gibt, die helfen, niemand Hunger haben muss, jeder seine Kleidung und sich waschen kann und es überhaupt viel Hilfsbereitschaft gibt. 

Autor: Joost Grzesiak (Q1)


[1] So werden Diebstähle bezeichnet, die Drogenabhängige auf Entzug begehen, um sich die Drogen finanzieren zu können. Dabei ist die Sucht so stark, dass die Menschen keinerlei Hemmungen mehr haben. Heroinabhängige benötigen laut Gisa 200 bis 300 Euro pro Tag.